“Die deutsche Literatur und ihre Jahreszeiten” – Gastvortrag von Frank Fischer am 21. Mai 2015

Im Rahmen des Forschungskolloquiums “Digital Humanities – Aktuelle Fragestellungen” hält Frank Fischer (Göttingen Center for eHumanities) einen Vortrag zum Thema “Die deutsche Literatur und ihre Jahreszeiten – Korpusphilologie am Beispiel von Zeitausdrücken”.

Zeit und Ort

Donnerstag, 21.05.2015
16:00 Uhr
S14 (Neues Seminargebäude)

Abstract

Exakte Datumsangaben sind ein Merkmal vieler Prosatextsorten. In der Literatur finden sich dagegen bevorzugt ungefähre Datumsangaben, die Interpretationsräume öffnen. So sind etwa alle 19 Monatsnennungen in Theodor Storms Schimmelreiter ungefährer Natur („an einem October-Nachmittag“, „Ende März“ usw.).
Ausnahmen von dieser Regel bilden Tagebuch-, Brief-, Abenteuer und historische Romane: In Goethes Werther oder Jules Vernes Tour du monde en quatre-vingts jour wimmelt es genretypisch von exakten Datumsangaben, im letztgenannten Roman sind sie in Form eines Countdowns gar unentbehrlicher Teil der Handlung. Ansonsten lässt sich als Hypothese formulieren: Kommt in der erzählenden Literatur ein exaktes Datum vor, ist das eine narrative Setzung, die der näheren Analyse lohnt. Davon ausgehend lassen sich dezidiert literaturwissenschaftliche Fragen ins Blickfeld nehmen:

  • Ist die Vermeidung exakter Datumsnennungen tatsächlich ein durchgehendes Merkmal bestimmter literarischer Genres? In welchem Verhältnis stehen exakte zu ungefähren Datumsangaben?
  • Kann die Frequenzanalyse von Datumsangaben zu Genreuntersuchungen genutzt werden?
  • Welche andere Bedeutung haben Datumsangaben neben der zeitlichen Verortung der Handlung? (‘Semiotisierung‘ eines Datums)
  • Gibt es zeitliche Konjunkturen für bestimmte Datumsnennungen? Wenn ja, warum?
  • Welche Rolle spielen fiktive Daten? (vgl. etwa Erich Kästners 35. Mai und Shakespeares 80. April in The Winter’s Tale, Autolycus’ Ballade im 4. Akt)

In diesem Vortrag geht es um Datumsangaben als einem isolierbaren feature literarischer Korpora im Sinne Matthew Jockers: „Indeed, the very object of analysis shifts from looking at the individual occurrences of a feature in context to looking at the trends and patterns of that feature aggregated over an entire corpus“ (Jockers 2013, S. 24). Anhand dieses Features (der expliziten Datumsnennung) als einzeln betrachtbare Einheit soll die Praxis der literaturwissenschaftlichen Makroanalyse methodisch bereichert werden.

Zur Person

Frank Fischer studied Computer Science, German Literature, and Spanish Philology in Leipzig and London and is an Ancien Pensionnaire de l’École Nor­male Supérieure in Paris. He received his PhD from the University of Jena for his study on the dramatic works of Joachim Wilhelm von Brawe and their contemporary translations into Russian, Danish, and French («Triumph of Revenge», publ. 2013). As a student, Frank worked as a programmer for the Deutscher Wortschatz project and for Text­Tech, a Leipzig-based company specialized in text mining. After graduating, he was an editor for the Brockhaus encyclopedia and part of the HistVV project at the Leipzig University Library. In addition to his academic work, he writes for newspa­pers such as Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit, Die Welt, and Süddeutsche Zeitung.